Ahnungslos, aufgeklärt oder schon verdorben?
Habt ihr euch auch schon gefragt, ob die heutige Jugend sexuell total offen und aufgeklärt ist? Oder ob sie die gleichen Unsicherheiten haben, wie damals ihre Eltern? Wir wollten es genau wissen und befragten eine Expertin zum Thema Aufklärung: Die Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan stand uns Rede und Antwort.
F: Dania Schiftan, sind Kinder und Jugendliche heute aufgeklärter als früher?
A: Man meint, Kinder und Jugendliche seien heute super aufgeklärt, weil sie schon sehr früh mit sexualisiertem Inhalt konfrontiert werden. Sei es auf dem Pausenplatz, wenn der Klassenkamerad pornografische Bilder herumzeigt. Sie schnappen sexuelle Begriffe auf und verwenden diese, ohne zu wissen, was genau dahintersteckt. Dadurch entsteht die ungute Dynamik, weil alle Beteiligten meinen, die anderen wüssten schon alles. Somit wird das Thema Sexualität und das Kennenlernen des eigenen Körpers häufig gar nicht erst am Familientisch diskutiert.
F: Was lernen die Jugendlichen in der Schule?
A: In der Schule ist Sexualität oft gar kein Thema, oder wenn dann erst sehr spät, gegen Ende der Oberstufe. Oft geht es im Sexualkundeunterricht nur um das Thema Verhütung. Sexualpädagogik sollte jedoch die ganze Spannweite der Sexualität beinhalten, so auch, dass Sex etwas Lustvolles und Schönes ist. Man darf nicht nur über die Gefahren und Schattenseiten reden. Die Fragen der Kinder und Jugendlichen sind noch immer dieselben wie vor 60 Jahren, aber leider fühlen sich heute manche Erziehungsberechtigte überfordert. Die Jugendlichen wiederum sind heillos überfordert mit der Bilderflut, weil sie niemanden darauf ansprechen können. Sie sind verunsichert ob so viel Material, das ständig verfügbar ist. Sie brauchen Ansprechpersonen, die sie alles Fragen können, jemanden der ihnen zur Seite steht. Als Eltern wie auch als Schule hat man die Pflicht, die Kinder und Jugendlichen zu begleiten. Denn mit sexualisierten Inhalten werden sie zwangsläufig konfrontiert.
F. Ist Aufklärung noch Elternsache? Und wenn ja, wann soll man damit beginnen?
A: Auf jeden Fall ist Aufklärung auch Elternsache. Ab Geburt sollte man damit beginnen. Zum Beispiel, wenn das Kleinkind anfängt, ein Bewusstsein für seinen Körper zu entwickeln. Aufklärung in diesem Alter heisst, Wörter fürs Geschlechtsteil zu finden. Lernen, was im Körper passiert, wie die Welt funktioniert. Wichtig ist es, den Kindern von Anfang an zu vermitteln: «Du kannst mich alles Fragen, ich bin für dich da.» Kinder kennen keine Scham, aber oft müssen die Eltern erst ihre Scham überwinden, um die Dinge beim Namen zu nennen. Zusammengefasst kann man sagen, Sexualität und der eigene Körper sollten ab Geburt ein Thema sein, und so natürlich wie möglich behandelt werden. Falls die Eltern Mühe damit haben, können sie sich externe Hilfe holen. Denn wenn Kinder und Jugendliche spüren, dass ihre Eltern nicht gerne über Sex reden, werden sie auch keine Fragen stellen. Was bleibt, ist viel Halbwissen, das sie nicht einordnen können.
F: Was können Kindergarten und Schule zur sexuellen Aufklärung beitragen?
A: Bereits in der Krippe kann man Aufklärungsarbeit leisten, in dem man das Geschlechtsteil beim Namen nennt. Bei Mädchen ist es aussen die Vulva und innen die Vagina oder Scheide, bei Knaben der Penis und die Hoden. Verniedlichungen sind nicht nötig. Aufklärung in der Kita ist auch wichtig, weil viele Kinder in diesem Alter ein Geschwisterchen bekommen. Sie dürfen erfahren, wie das Baby in Mamis Bauch kommt. Wir Erwachsenen tendieren dazu, alles zu sexualisieren, dabei ist es die natürlichste Sache der Welt. Aufgeklärte Kinder sind zudem viel geschützter, sie können unterscheiden zwischen Dingen, die sie gernhaben, und solchen, die sie nicht mögen.
F: Was können Eltern tun, wenn ihre Kinder Pornos konsumieren?
A: Im besten Fall war das vorher schon ein Thema am Familientisch. Dann ist man vorbereitet. Und wenn es schliesslich so weit ist, muss man das Thema mit den Kindern besprechen, sie fragen, ob sie wissen, was das bedeutet. Man muss spüren, ob es dem Kind wohl dabei ist, bei dem, was es gesehen hat, oder ob es sich um Gruppenzwang handelt. Im besseren Fall wissen die Eltern bereits, mit was sie konfrontiert werden könnten. Das bedeutet, dass sie sich informieren, was in der Pornobranche gerade «Trend» ist, und dass sie sich bewusst sind, dass ihre Kinder diese Inhalte sehen könnten.
Dania Schiftan, herzlichen Dank für das offene Gespräch!
Dania Schiftan ist Dr. phil. in Sexologie und Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Zürich. Nebst ihrer Praxistätigkeit hat sie Lehraufträge an der Hochschule Merseburg sowie an den Fachhochschulen Nordwestschweiz FHNW und Westschweiz-Wallis. Seit einigen Jahren bietet sie auch Online-Therapie an, um der Nachfrage aus weiter entfernten Regionen nachzukommen.